Die tausend Zweifel um Cornelius Gurlitt
Basler Zeitung 9.11.2013, 25
Im Umgang mit Raubkunst und "entarteter Kunst" braucht es neue Gesetze und Regelungen
Weltweit gilt der Kunstfund in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt als Sensation: Die Behörden entdecken einen Kunstschatz, dessen Wert sich schwer beziffern lässt und der mit den brutalen Raubzügen der NS-Zeit zusammenhängt.
In heimlicher Sorgfalt hütete Gurlitt seinen Schatz jahrzehntelang, ähnlich wie der Drache Fafner den seinigen im «Ring des Nibelungen» in der Oper von Richard Wagner.
Die Fakten
Fakt ist, dass Hildebrand Gurlitt – der Vater von Cornelius Gurlitt – einer der offiziellen Kunsthändler des Naziregimes war; im Auftrag der Nazis verkaufte er Gemälde, die von den Nazis als «entartete Kunst» diffamiert wurden. In Frankreich hat er für das NS-Regime Kunstwerke erstanden. Zahlreiche Kunstwerke erwarb Vater Gurlitt für sich selber, was längst aus Publikationen über Raubkunst hervorgeht. Das Gemälde von Max Liebermann «Reiter am Strand» ist seit Jahren in der öffentlich zugänglichen Datenbank für Kulturgutverluste «Lost Art» verzeichnet. Notabene wird die Datenbank von Bund und Ländern in Deutschland betrieben. Fest steht, dass einige der jetzt veröffentlichen Fundstücke als Raubkunst zu werten sind.
Noch ein Faktum: Der Sohn Cornelius Gurlitt verkaufte in den letzten Jahrzehnten immer wieder Werke aus dem Konvolut – unter anderem an die Galerie Kornfeld in Bern. Einer dieser Verkäufe erfolgte 1990; Cornelius Gurlitt behauptete 2010 gegenüber den Zollbehörden, er komme von der Galerie Kornfeld in Bern, der er ein Gemälde verkauft habe. Die Galerie bestreitet das vehement.
Ausser alledem irritiert die Tatsache: Kaum wurde der Fund bekanntgegeben, kaum wurde publik, dass die Erben von Opfern des NS-Regimes Aufklärung verlangen, wird ausgerechnet ihnen, den geschädigten Familien, Geldgier vorgeworfen.
Die Zweifel
Woher rührt die faszinierende Ahnungslosigkeit der Augsburger Behörden im Umgang mit NS-Raubkunst, wo doch auch ihnen die Datenbank «Lost Art» zur Verfügung steht? Hätten die Behörden nicht umgehend die Opferfamilien und mögliche Anspruchsberechtigte informieren sollen?
Weshalb wurde die Öffentlichkeit erst nach mehr als einem Jahr über das Konvolut informiert? Warum wird für die aufwändige Recherche-Arbeit, mit der die Herkunft der 1400 Kunstwerke erforscht werden muss, nur eine einzige Person eingesetzt? Wer könnte von einer Verzögerung profitieren? Weshalb publizieren die Behörden die Kunstwerke nicht in einer Datenbank? Andererseits: Warum wurde die Geschichte einer Zeitschrift «gesteckt»? Wer hatte Grund zur Annahme, das Konvolut könnte ohne Aufsehen zu erregen wieder an Cornelius Gurlitt zurückgegeben werden? Welche Rolle spielt die Galerie Kornfeld in Bern?
Die Forderungen
Unter den Kunstgütern wurden Werke sogenannt «entarteter Kunst» festgestellt. Wie viele als NS-Raubkunst zu bewerten sind, das wird sich erweisen, wenn die Ergebnisse der Provenienz-Recherchen vorliegen: wenn klar ist, welche Werke die Nazis von den damaligen Besitzern raubten. Zweifellos liesse sich das Verfahren beschleunigen, wenn der gesamte Bestand der gefundenen Werke nicht nur für eine Person in Augsburg, sondern in einer Datenbank für Forschende in aller Welt zugänglich wäre. Die deutsche Bundesregierung könnte auf rasche Klärung drängen und die Forderung unzähliger Fachleute unterstützen, rasch eine solche Datenbank einzurichten. Fälle von Raubkunst sind meist von internationaler Tragweite. Auch dieser. Zahlreiche Gemälde stammen aus Frankreich. Deshalb sollten Behörden, wie immer in delikaten Fällen, von Beginn an zusammenarbeiten. Wenn eine lokale Verwaltung derart lange innerhalb ihrer bürokratischen Einheit verweilen kann und der sensationelle Fund nur durch eine Indiskretionpublik wird, sind die politischen und gesetzgebenden Instanzen gefordert. Mithin sollte die Öffentlichkeit endlich Politik und Gesetzgebung in die Pflicht nehmen, vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Alle Rechtshändel, die auf Nazi-Gesetzen beruhen, gehören aufgehoben. Dafür sind in diesen Ländern neue, griffige Gesetze erforderlich, mit denen insbesondere das Privatrecht so angepasst wird, dass der gutgläubige Erwerb oder die Ersitzung in solchen Fälle verunmöglicht wird. Die bisherigen Selbstverpflichtungen, die auf Freiwilligkeit basieren, sind zu wenig wirkungsvoll. Es ist zu erwarten, dass solche Regelungen als staatliche Enteigung interpretiert und für unzulässig taxiert werden. Tatsächlich gilt zu bedenken: Unzähligen, denen die Nazis ihre Güter enteigneten, liessen sie nicht einmal das Leben. Erfahrungsgemäss trifft, wer sich für die NS-Geschädigten einsetzt, bald auf mehr oder weniger offen artikulierten Antisemitismus. Es ist nicht lange her, dass der Chef eines renommierten Auktionshauses ungeniert öffentlich kundtat: «Man sagt Holocaust und meint Geld. In New York gibt es dafür einen Begriff: Schoa Business.» Er ist nicht der Einzige, der solche Ungeheuerlichkeiten, ob öffentlich oder hinter vorgehaltener Hand, von sich gibt. In Wagners Oper vermag ein Einzelner das Ungeheuer heldenhaft zu bezwingen, sodass der Drache Fafner den Schatz freigeben muss. Diese märchenhaften Zeiten sind passé. In der heutigen Wirklichkeit braucht es das Publikum, das wirksame Gesetze und Regelungen verlangt, um zu verhindern, dass weiterhin ungestört Kunstsammlungen, die auf den Verbrechen des Nationalsozialismus gründen, gehütet werden können. « Merk’, wie’s endet!» krächzt der sterbende Drache Fafner. Der Vorhang fällt.