In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1969 ereignete sich in der sizilianischen Hauptstadt Palermo ein spektakulärer Kunstdiebstahl. Zwei Diebe betraten die kleine Kirche Oratorio di San Lorenzo. Sie schlichen zum Altar, wo sie ein fast zwei auf drei Meter grosses Gemälde aus dem Rahmen schnitten: das Meisterwerk «Christi Geburt mit den heiligen Laurentius und Franziskus» des italienischen Malers Michelangelo Merisi da Caravaggio aus dem Jahr 1609.
Der Diebstahl in jener warmen und regnerischen Herbstnacht ist bis heute ungeklärt. Die US-Bundespolizei FBI führt ihn auf der Liste der «Top Ten Art Crimes». Das Gemälde ist mindestens 20 Millionen US-Dollar wert.
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Jetzt gibt es eine neue Spur zum Schicksal des verschollenen Gemäldes. Sie führt in die Schweiz. Ein Pentito, ein geständiger Kronzeuge der Mafia, sagte vor der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission in Rom aus, das Gemälde sei im Besitz der Mafia gewesen – dann sei es 1970 an einen «wichtigen Käufer aus der Schweiz» gegangen. Vermittelt habe den Deal ein Schweizer Händler, der mittlerweile verstorben sei. Den Namen dieses Antiquars nannte der Mafia-Kronzeuge nicht.
Doch aus der Schweiz gibt es keine Hilfe. Die zuständigen Behörden bleiben untätig. Der Tenor: Ohne offizielle Anfrage aus Italien, ohne Rechtshilfeersuchen läuft nichts. Weder beim Bundesamt für Kultur noch bei der Bundespolizei oder der Bundesanwaltschaft werden Beamte aktiv.
Für den Kulturrecht-Experten und Hochschuldozenten Andrea Raschèr ist dies unverständlich. «Es wäre klug, wenn zumindest das Bundesamt für Kultur proaktiv Kontakt mit den italienischen Behörden aufnehmen würde.» Ansonsten könne «die Reputation der Schweiz Schaden nehmen. Es geht schliesslich um die Aufklärung eines eminent wichtigen Kunstdiebstahls.»
Im Kulturgütertransfergesetz heisst es, das Bundesamt für Kultur arbeite «mit den Behörden anderer Staaten zusammen, um deren kulturelles Erbe zu sichern». Dass ein «ordentliches Rechtshilfeersuchen» notwendig ist, steht darin nicht.
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Ist nun die neuste Version, wonach das Gemälde in die Schweiz verkauft wurde, auch nur eine Legende? Raschèr hält es für «nicht ausgeschlossen», dass ein Schweizer das Werk kaufte. Denn noch in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren sei die Schweiz «eine Drehscheibe des illegalen Kunsthandels» gewesen – «vor allem auch mit Gütern aus Italien». Es sei einfach gewesen, ein Gemälde über die grüne Grenze in die Schweiz zu bringen und anschliessend über mehrere Stationen weiterzuverkaufen, um die Spuren zu verwischen.
Raschèr weiss, wovon er spricht. Unter anderem hat er jahrelang beim Bundesamt für Kultur die Fachstellen Kulturgütertransfer und Raubkunst geleitet. Als plausibel erachtet der Experte auch die Aussage des Mafia-Kronzeugen, wonach die «Christi Geburt» in sechs bis acht Teile zerschnitten worden sei. «Das ist eine gängige Praxis bei Diebstählen grosser Gemälde mit zahlreichen Figuren», sagt er. «So wird der Transport einfacher; am Ende setzen fachkundige Restauratoren das Gemälde wieder zusammen.»
Bleibt die Frage, was die Strafverfolgung nach all den Jahren noch ausrichten könnte. Denn der Diebstahl an sich ist wohl verjährt. Raschèr sagt aber: «Sobald sich die Spuren verdichten, sollte auf jeden Fall geprüft werden, ob der Straftatbestand der Hehlerei noch gegeben ist.» Um das herauszufinden, müssten die Schweizer Behörden allerdings erst aktiv werden.