Das Standfoto ist der Schlussszene von Andrei Tarkowskis Spielfilm «Stalker» (1979) entnommen. In den Minuten vor dieser Einstellung haben wir gesehen, wie das Mädchen mit dem fahlgelben Kopftuch am Tisch sitzt und konzentriert in einem Buch liest. Dann legt sie das Buch ab und ohne dass sich ihre Lippen bewegten, vernehmen wir ihre Stimme aus dem Off wie einen inneren Monolog. Das Gedicht, das sie aufsagt, handelt von Augen und Blicken und endet mit der Metapher «ogn’ zhelanja» – «Feuer des Verlangens». Was ist wohl das brennende Verlangen des Mädchens?
Es ist gelähmt, es kann seine Beine nicht bewegen. Doch in den folgenden Filmminuten wird das Mädchen die Gläser in den Blick nehmen und sie in Bewegung setzen, ohne sie zu berühren. Das Mädchen besitzt anscheinend die Fähigkeit, die Position von Objekten allein durch Gedankenkraft zu verändern. Woher hat es diese telekinetische Gabe, wie ist sie zu erklären? Als mentale Gegenkraft zu ihrer körperlichen Beeinträchtigung? Oder verleiht ihr das Gedicht in ihrem Kopf eine poetische Kraft, die Gesetze der gegenständlichen Welt zu überschreiten? Oder wechselt Tarkowski hier zu der Form des Animationsfilms als Ausdruck der Magie bewegter Bilder?
Mich fasziniert, wie Tarkowski alltägliche Gegenstände wie die drei Gläser durch den Kontext in magische Objekte verwandelt. Ich kann mich nicht bewegen, aber ich kann die Dinge bewegen, sagt das Bild aus der Perspektive des Mädchens. Wenn dann der Schlusschor aus Beethovens 9. Symphonie «An die Freude» erklingt, übertönt von Geräuschen eines heranbrausenden Zuges, entsteht der Eindruck, das Mädchen höre aus der Tiefe dieser tristen Szene das Wort «Freude» aus dem Chorgesang heraus.
Der Vater des Mädchens ist der «Stalker», hier in der Bedeutung eines Kundschafters, der Hoffnung Suchenden den Weg durch die verbotene, gefahrenvolle «Zone» weist. In ihrer Mitte befindet sich der «Raum der Wünsche», der diejenigen, die ihn betreten, nach ihren geheimsten Wünschen aushorcht und diese verwirklicht. Nur muss man sich genau bewusst sein, was man sich wirklich wünscht, denn der Raum hört auch die unbewussten Wünsche.
Sowohl in der Figur des Kundschafters als auch in seiner Tochter sehe ich meine eigene Arbeit als Coach und Mediator gespiegelt. Auch ich möchte Suchende auf dem Weg zu ihrem Zielraum, zu ihrem Kern, durch die schwierigen und bedrohlichen Passagen ihrer «Zone» führen. Es beginnt mit der Überwindung des Grenzzauns, der die Zone abriegelt, und führt über lange Suchbewegungen zum Ziel: der Eröffnung eines Raums, in dem persönliche Veränderung, die Umgestaltung der eigenen Lebensform, möglich wird. Und ich strebe es dem Mädchen mit dem gelben Kopftuch nachzumachen: Ich möchte meine Kundinnen bei ihren weiteren Schritten unterstützen, in den unter all dem Lärm und Krach des Alltags kaum noch vernehmlichen Jubelgesang auf die Freude einzustimmen. Dabei würde ich meine Methode im Sinne dieses Bildes als eine Form der Kinese beschreiben, um den Wesenskern, die Seele der sich mir anvertrauenden Person, zu neuer, kraftvoller Eigendynamik anzufeuern.