Der Fachmann Andrea Raschèr erklärt, was der Unterschied zwischen Raubkunst und Fluchtgut ist. Und was zu tun ist, wenn an der heimischen Wohnzimmerwand ein verdächtiges Gemälde hängt.
Andrea Raschèr ist einer der führenden Schweizer Experten für Raub- und Fluchtkunst. Von 1995 bis 2006 leitete er die Abteilung Recht und Internationales im Bundesamt für Kultur. In dieser Eigenschaft vertrat er die Schweiz an der Konferenz für Raubkunst in Washington. Raschèr hat familiär Bündner Wurzeln; er arbeitet als Jurist und Berater in Zürich.
Was ist der Unterschied zwischen Raubkunst und Fluchtgut?
Stellen Sie sich vor. Sie sind Jude in Berlin im Jahr 1936. Die Gestapo stürmt ihre Wohnung und verhaftet Sie und nimmt Ihre Gemälde mit: Dann ist das Raubkunst. Falls Sie hingegen zuvor erfahren, dass die Gestapo kommt und sie rechtzeitig fliehen können und ihre Gemälde mitnehmen und diese dann verkaufen, um ihre Flucht vor dem sicheren Tod zu finanzieren: Dann ist das Fluchtgut. Wenn wir ganz ehrlich sind, geht es in beiden Fällen darum, dass Ihnen Ihr Gemälde weggenommen wird, weil Sie als Jude von den Nazis verfolgt werden. Deshalb bringt es der Begriff «NS-verfolgungsbedingter Entzug» auf den Punkt.
Bestehen rechtliche Verpflichtungen, den ursprünglichen Eigentümerinnen und Eigentümern auch Fluchtgut zurückzugeben?
Die Schweiz anerkennt mit der Unterzeichnung der Erklärung von Terezin im Jahr 2009, dass NS-verfolgungsbedingt entzogene Kunstgegenstände unter die Regelungen der Washingtoner Richtlinien fallen, wie beispielsweise solche, die durch Diebstahl, Nötigung und Entzug sowie durch Preisgabe, Zwangsverkauf und Verkauf in einer Zwangslage veräussert wurden. Aus diesen Gründen sind auch in der Schweiz Raubkunst und Fluchtgut unterschiedslos unter den Begriff der NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstgegenstände zu fassen, für die im Einzelfall nach gerechten und fairen Lösungen zu suchen ist.
Wer entscheidet, welche Vermögenswerte unter Druck zu zu niedrigen Preisen erworben wurden?
Jeder Einzelfall muss gesondert behandelt und eine gerechte und faire Lösung gesucht werden. Dies geschieht meist über Verhandlungen unter Beizug von Fachleuten.
Die Museen sind ein Fall, aber es gibt auch private Besitzerinnen und Besitzer. Was ist, wenn Raub- oder Fluchtkunst daheim an der Wand hängen?
Auch hier gilt: Zuerst müssen die Fakten gesammelt werden. Falls es sich herausstellen sollte, dass es NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstgegenstände sind dann sind «faire und gerechte Lösungen» zu finden.
Fakt ist auch, dass es heute immer schwieriger wird ein Gemälde zu verkaufen, das als NS-verfolgungsbedingt entzogen gilt: Wer will schon ein Gemälde kaufen, das einen solchen Makel hat.
Wie sieht es aus, wenn ein Werk erst beispielsweise in den Achtzigerjahren zu einem damals marktüblichen Preis gekauft oder ersteigert wurde und es sich jetzt als Raub- oder Fluchtkunst erweist?
Jeder Einzelfall muss gesondert behandelt und eine gerechte und faire Lösung gesucht werden. Ausschlaggebend wird sein, ob die Erwerberin genügend sorgfältig die Provenienz des Werkes abgeklärt hat.
An wen sollen sich private Sammlerinnen und Sammler im Zweifelsfall wenden?
Wenn mich jemand fragt, ist eine Antwort: Wenden Sie sich an das Schweizer Institut für Kunstwissenschaft in Zürich (SIK). Das Institut ist das Kompetenzzentrum in der Schweiz und hat aus meiner Sich auch die nötige Unabhängigkeit.
Wie beurteilen Sie die Provenienzforschung der beiden grossen Bündner Kunsthäuser, Kunstmuseum und Kirchnermuseum?
Das Kunstmuseum in Chur war bereits sehr früh in der Diskussion vorbildlich. Der frühere Direktor Beat Stutzer kann in der Schweiz als ein Vorreiter und Vorbild im Umgang mit Raubkunst gelten. Wo das Kirchnermuseum steht entzieht sich meinem Kenntnisstand.
Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Die Museen sollten ihre Provenienzforschung weiterführen und intensivieren. Auch private Sammlungen sollten die gleichen Standards anwenden. Auch in der Schweiz sollte der Begriff «NS-verfolgungsbedingter Entzug» angewendet werden und nicht zwischen Raubkunst und Fluchtgut unterschieden werden. Schliesslich sollte eine Kommission auf Bundesebene eingerichtet werden, die bei Kunstwerken mit Lücken in der Provenienz eine auf den Einzelfall zugeschnittene Lösung empfehlen kann. Wichtig ist, dass eine solche Kommission lediglich Empfehlungen abgibt und weder eine Mediation durchführt oder Urteile fällt. Sie sollte jedoch bereits in Aktion treten, wenn dies nur eine Seite wünscht. Und sie sollte vollkommen unabhängig und ausgewogen zusammengesetzt sein.